Ist die #digitalcharta noch zu retten?
Nein. Denn:
These: Die derzeitige Verfassung des Netzes bietet der Exekutive nicht die notwendigen Mittel zur Gewährleistung von mindestens drei Säulen des Rechtsstaates: Verantwortlichkeit, Rechtssicherheit und Verhältnismässigkeit. Eine Digitalcharta ist aber kontraproduktiv. Notwendig ist ein Umbau des Netzes um dem Rechtsstaat die notwendigen Grundlagen zurückzugeben. Oder eine Aufkündigung des Rechtsstaats.
Viel wurde über die Digitalcharta geschrieben. Juristen und andere üben formale, stilistische und inhaltliche Kritik. Die Initiatoren schalteten nach einem kurzen “Ups!” auf Angriff “Hater!” und dann einen Gang runter auf “Wir lieben Euch doch alle!” und BETA!11einself.
Unabhängig von Form, Stil und Inhalt soll es daher hier um die implizierte Grundlage der Digitalcharta gehen: “Kann es ein digitales Leben im analogen geben?”
Was unterscheidet das Digitale vom Analogen?
Die Kopierbarkeit. Genauer: die geringeren Kopierkosten und die Tatsache, dass ein bestehendes Item mit vollkommener Ununterscheidbarkeit kopiert werden kann. In der analogen Welt oder besser im Real Life (RL) benötigt es Energie, Rohstoffe, Werkzeuge und Menschen, um eine oder viele Instanzen einer Ware herzustellen. Die Kosten steigen mit der Anzahl der Instanzen. Zwar flacht die Kostensteigerungsquote mit zunehmender Anzahl ab, steigt aber wegen der limitierten Verfügbarkeit von Energie, Rohstoffen, Werkzeugen und Arbeitskräften irgendwann wieder an. Ein StartUp mit einem RL-Businessmodell muss auf die Frage eines Investors “Ist ihr Modell skalierbar?” immer antworten, “Ja, aber …”.
Die Möglichkeit, Items – bei nahezu keinen Kosten – kopieren zu können, betrifft jedoch nicht nur Dinge, die auf dem Markt angeboten werden. Im Gegensatz zum RL können auch Items kopiert werden, die bereits einen Eigentümer haben. Das alltägliche Geschäft des Raubmordkopierers. Im RL müsste dieser in eine Wohnung einbrechen, an das Plattenregal gehen und umständlich Rip-Mix-Burnen. Er hätte danach noch immer keine ununterscheidbare Kopie.
Der entscheidende Punkt hier ist nur vordergründig der Kostenunterschied für die Erstellung (ein Kopierprozess) von Items. Der wichtige Punkt ist die Ununterscheidbarkeit der Items. Sie bedeutet, dass digitale Kopien nicht nur identisch sind, sondern auch keine Spuren des Herstellungsprozesses vermitteln.
Konkret: Beweismittelsicherung basiert darauf, dass die Polizei glaubhaft vermittelt, dass der Gegenstand “Brechstange” bei dem Beklagten gefunden wurde. Die Spurensicherung konnte nachweisen, dass sowohl Farbspuren des Tatorts als auch DNA des Beklagten an dieser Brechstange zu finden sind. Für die Verteidigung wird es langsam eng. Die Brechstange wird als Eigentum des Beklagten “attributiert”.
Unser Rechtssystem hat verschiedene Säulen. Eine Säule ist die Verantwortlichkeit des Individuums für sein Handeln. Nur in Ausnahmen (Kindheit, Krankheit) wird diese als nicht gegeben angenommen.
Rechtssicherheit und Verhältnismäßigkeit der Mittel sind weitere Säulen. Sie können unter anderem so interpretiert werden, dass ein Gesetz Handlungen nicht mit Strafe belegen sollte, wenn der Staat die Durchsetzung nur in wenigen Fällen gewährleisten kann und die Bestrafung bei Verfolgung bezüglich der Tat zu drakonisch ausfällt (siehe Störerhaftung).
Die oben genannte Brechstange wird zusammen mit der Verantwortlichkeit für eigenes Handeln und der allgemein garantierten Rechtssicherheit und Verhältnismäßigkeit zu einer Verurteilung des Eigentümers dieses Gegenstandes führen müssen.
In der digitalen Welt klebt weder DNA noch Farbe an einem “Gegenstand”. Eine Kopie eines privaten Dokumentes – verteilt über Tor – liefert keinerlei Beweismaterial über die Umstände des nicht legitimierten Kopierprozesses. Möglicherweise ist sogar der Vorgang selbst unbemerkt geblieben (im RL eher selten der Fall).
Die derzeitige Verfassung des Netzes bietet der Exekutive also nicht die notwendigen Mittel zur Gewährleistung von mindestens drei Säulen des Rechtsstaates: Verantwortlichkeit, Rechtssicherheit und Verhältnismässigkeit. Handlungen sind nur sehr schwer Personen zuzuordnen, Dinge sind unterschiedslos zu kopieren und die Kosten für Handlungen sind so billig, dass Strafen unverhältnismäßig hoch sind.
Technik
Die “derzeitige Verfassung des Netzes” ist jedoch kein unumstößliche Tatsache. Sie ist lediglich ein technischer Status Quo. Eine Handvoll RFCs beschreiben die technische Infrastruktur. Diese Infrastruktur ist verantwortlich für die Unvereinbarkeit essentieller Grundbausteine des Rechtsstaats mit der digitalen Sphäre.
Und die Infrastruktur des Netzes ist veränderbar. Alle Kopiervorgänge können transaktionssicher gemacht werden, können geloggt werden. Jedes Datum kann mit einem Hashcode versehen werden, kann signiert werden, verschlüsselt und mit einem Eignentümerstempel versehen werden.
Das alles klingt zunächst mal unglaublich aufwändig. So aufwändig wie es für die ersten Flugpioniere geklungen hätte, heute geltende Pilotenprüfungen abzulegen. Marie Curie hätte ihre Forschungen gar nicht machen können, hätten damals die aktuellen Sicherheitsanforderungen an den Umgang mit radioaktiven Materialien gegolten.
Aber wir befinden uns in der IT noch immer in einer “frühkindlichen” Phase. Moore hat – obwohl immer wieder totgesagt – für viele Jahre nicht ausgedient. Rechenpower, Speichergröße und Netzbandbreite werden stetig verbessert und verbilligen sich dadurch. Und transaktionssichere Implementationen für alle Layer des Netzes sind prinzipiell möglich, trotz aller Hürden die sich zum Beispiel aus der Frage der Vertrauenswürdigkeit von Blackbox-Hardware ergeben. Kann sein, dass man sich auch von von-Neumann-Architektur verabschieden muss. Who cares?
Das Verfahren für eine transaktionssichere Infrastruktur heißt – trommelwirbel – Blockchain. Wiki schreibt u.a.:
Eine wesentliche Besonderheit der Blockchain ist, dass sie Einvernehmen über geschäftliche Transaktionen herstellen kann, ohne hierzu eine zentrale Instanz oder einen vertrauenswürdigen Dritten zu benötigen.
Eine solche Infrastruktur hätte zum Beispiel einen netten Nebeneffekt: Umgeht jemand die Blockchain um an Daten zu gelangen, deren Eigentümer ihm keinen Zugriff darauf gegeben hat, macht er sich strafbar. Im Zweifelsfall könnte man Datenweitergabe sogar noch von einem Schlüsseltausch abhängig machen.
Und die Überwachung?
Überwachung könnte laut gültigen Gesetzen nicht mehr mit einem Fischernetz (wie z.B. bei G10) stattfinden. Nur Richter können bei einem begründeten Verdacht Zugriff auf die Daten erlauben. Der Netznutzer würde gewissermassen dem Staat vertrauen müssen und für ihn würde der Erlaubnisvorbehalt gelten. Durch einen Key-reject kann der Dateneigentümer sogar im Nachhinein ihn betreffende Daten von der Verarbeitung ausschliessen.
Der zu fordernde Umbau der existierenden Netzinfrastruktur ist das einzige, das derzeit notwendig ist. Als Anmerkung zur EU-Charta wäre folgendes sinnvoll:
Jeder Mensch hat das Recht auf eine transaktionssichere und geschützte Teilnahme an digitaler Kommunikation. Daten die ein Kommunikationsteilnehmer in den Kommunikationsnetzen hinterlegt sind als Teil seiner Person zu betrachten und geniessen dem gleichen Schutz wie seine Wohnung.
Wem die obige Forderung zu radikal ist kann sich gerne die Kleinklein-Kritik anderer an der Digitalcharta durchlesen:
- Thomas Stadler: “Die Charta ist in doppelter Hinsicht anmaßend.”
- Hadmut Danisch: “Entweder hat man ein Recht, und kann dann aufgrund dieses Rechtes etwas fordern. Oder man hat das Recht nicht, dann kann man darum bitten oder betteln.”
- Wolfgang Michal: “Wie man eine richtige Debatte in falsche Bahnen lenkt”
- Niko Härting: “Ganz allgemein gibt man die Devise aus, es handele sich ja nur um einen ‘Diskussionsanstoß’”
- Julia Reda: “Rückschritt gegenüber dem Status quo”
- tante: “Und hier bleibt der Entwurf weit hinter allem zurück.”
- mspr0: “Ich hoffe, dass diese Debatte totgeschwiegen wird. Wenn das irgendwann mal eine gesetzliche Regelung wird, dann: Gute Nacht!”
- Steglitz meint: “So wird das leider nix. Jedenfalls nichts mit einer wünschenswerten Beteiligung vieler EU-Bürger.”
- Algorithmwatch: “Unser Fazit: Gut gemeint ist auch hier das Gegenteil von gut gemacht.”
- Bernhard Kern: “Die Rechte der Charta gelten auch gegenüber Privaten. Das heißt also im Zweifel auch gegenüber den eigenen Nachbarn.”
- Ausbaldowert: “Es bleibt der Eindruck eines unausgegorenen Experiments.”
- Martins Blog: “Der Staat ist sehr gefährlich einerseits (Gewaltmonopol), aber andererseits die einzige heilbringende Quelle, weil nur er überhaupt Grundrechte gewähren kann.”