Alpha Beta #Charta – Großes Theater vom #D64
Fast wäre die Charta vom D64 an mir unbesehen vorbeimäandert. Doch ein tweet von @in_aha schützte das Dokument vor meinem ewigen Übersehen.
Bei soviel digitalen Lobby-Organisationen (A-, B-, CNetz) kann man schon mal den Überblick verlieren. Da ist es gut, wenn einer davon mehr von Kommunikation versteht als die anderen. Und tatsächlich sitzen beim D64 Leute, die sich mit Kommunikation auskennen. Die erste Regel lautet: GROß DENKEN! Das tun sie. Zum Beispiel dadurch, dass sie gleich mal eine Charta veröffentlichen. Man erinnere sich, dass Chartas formuliert wurden, um die Vereinten Nationen zu begründen (1945) und 1977 um den Ostblock in die Knie zu zwingen. Chartas sind “die für das Staats- und Völkerrecht grundlegenden Urkunden“.
Der jetzt veröffentlichte Entwurf, soll nun von den D64-Vereinsmitgliedern diskutiert werden. Die Plattform dafür nennt sich Zentrum. Auch hier zeigen sich wieder die Kommunikationsprofis. Wer sich selbst in die Mitte stellt kann nicht ausgegrenzt oder marginalisiert werden. Von ihm geht alle Bewegung aus. Andere können sich zwar andocken aber D64 ist das Zentralgestirn.
Im ersten Punkt wird dieses Vorgehen noch mal deutlich: “Als D64 fordern wir, das gesamte Spektrum der politischen, technologischen und gesellschaftlichen Veränderung in den Blick zu nehmen.” Dadurch dass der D64 im Zentrum steht hat er den vollkommenen Überblick. Andere stehen am Rand und werden dadurch immer nur Einzelaspekte des digitalen Lebens betrachten. Egal ob sie sich selbst digitale gesellschaft oder Piraten nennen.
Die weiteren Punkte sind gegliedert in 2. Teilhabe, 3. Datenschutz, 4. Netzpolitik, 5. Öffentlichkeit, 6. Gesetzeslage, 7. Primat der Bürgerinnen und Bürger, 8. Arbeit, 9. Wissenschaft und 10. Transnational. Da sich viele aktuellen Themen dieser Strukturierung entziehen, sollen hier die Antworten auf die wichtigsten Fragestellungen untersucht werden
Netzneutralität und Netzzugang
Basis für eine Gesellschaft in Zeiten des Internet ist auch für den D64 ein freier und überall verfügbarer Zugang zum Netz. Der Verein fordert daher auch den flächendeckenden Ausbau und den kostenlosen Netzzugang. Notfalls soll der Staat selbst investieren. Das Internet wird als ein Grundrecht postuliert.
Um welche Art Internet es sich handelt wird an dieser Stelle noch nicht dargelegt. Aber auch später taucht eine Forderung nach Netzneutralität nicht auf. Lediglich im Kontext des Urheberrechtschutzes wird vor unangemessenen Eingriffen gewarnt. Dabei bleibt unklar was angemessene Eingriffe wären. Sind Stoppschilder oder Domainsperren angemessen? Wer misst und was ist Maßstab?
Vorratsdatenspeicherung, Fluggastdaten
Interessanterweise behandelt der Verein die Vorratsdatenspeicherung unter dem Thema Datenschutz und nicht unter Netzpolitik oder Gesetzeslage. Die anlasslose Speicherung wird umfänglich abgelehnt. Man spricht sich für Quickfreeze mit Richtervorbehalt und Informationspflicht und -löschen aus.
Über die Weitergabe von Daten zum Beispiel im Rahmen eines Fluggastdatenabkommens der EU und den USA sagt der D64 nichts.
Privatsphäre, Datenschutz
“Wir glauben nicht an das Ende der Privatsphäre als Wert.” Der D64 ist also kein Anhänger der Postprivatiers oder Spackeria. Das wäre allerdings auch seltsam. Denn der Verein wird inhaltlich stark von der Post-Tochter nugg.ad bestimmt. Diese Firma betreibt Targeting und Retargeting und lebt damit wesentlich vom Wert der privaten Daten der Nutzer. Ein Ende der Privatsphäre würde ihr Herrschaftswissen egalitären.
Datenschutzmaßnahmen hätten die Aufgabe “vor intransparenten, unkontrollierten und überzogenen Datensammlungen […] zu schützen”. Sie hätten aber “auch das Interesse der Nutzer und der Verkäufer im Netz im Blick behalten …”. “Maßstab muss das mutmaßliche Interesse eines durchschnittlichen informierten Nutzers sein.” Wichtig hierbei ist insbesondere die Mutmaßung. Denn nur sie ermöglicht eine Cookie-Richtlinie auf der Basis von Opt-Out-Verfahren. Ein Betreiber kann damit jederzeit glaubhaft mutmaßen, dass insbesondere ‘seine’ durchschnittlich informierten Nutzer ein Interesse an seiner Datensammelwut hätten.
Anonymität im Netz
Zu einer immer wieder geforderten Pflicht, sich als Nutzer im Netz zu identifizieren nimmt die Charta keine Stellung. Das ist insofern erstaunlich als dass diese Forderung die zentrale Schnittstelle aller Ideen zur Einschränkung der Rechte im Netz ist und mitschwingt, wenn vom rechtsfreien Raum gesprochen wird. Hier hätte sich der Verein wegweisend mit seiner “Charta” zeigen können.
[Korrektur] Hier bin ich Opfer der sehr eigenen Struktur des Dokumentes geworden. Stephan Noller (D64-Gründungsmitglied und nugg.ad-Gründer) wies mich im Kommentar darauf hin, dass unter Datenschutz Absatz H deutlich steht, dass “Die Möglichkeit, das Netz unter Pseudonym zu nutzen” erhalten bleiben muss. Aus meiner Sicht ist dies jedoch kein natives Datenschutz- sondern ein übergeordnetes Thema. Vor allem die Bindung an die BILD-Aufreger Verunglimpfung und Beleidigung spiegeln die Relevanz nicht. Letztlich ist in einer Demokratie die Anonymität der Meinungsäusserung ein Grundrecht. [/Korrektur]
Leistungsschutzrecht, ACTA
In der Charta spricht sich D64 unter dem Punkt 6.Gesetzeslage Absatz D explizit für einen Urheberschutz aus, der die Kreativen selbst begünstigt und nicht überkommene Verwertungsmodelle zementiert. An keiner Stelle wird der Begriff des geistigen Eigentum diskutiert. Dabei wäre eine klare Position zu diesem Terminus wegweisend. Denn es zeichnet sich ab, dass in der nächsten Dekade Patentkriege weitaus mehr Einfluss auf die Art und Weise, wie wir das Netz nutzen haben werden als beispielsweise die Medienkompetenz der User.
Fazit
Bei 15 Seiten fällt vor allem auf, dass etliche Themen nicht oder nur #reichlichschwammig™ behandelt werden. Relevante Forderungen sind das Grundrecht auf einen Internetzugang, die Ablehnung der Vorratsdatenspeicherung und eine Überarbeitung des Urheberrechts. Damit bewegt sich der D64 tatsächlich in der Mitte der Netzgemeinde.
Von einer Charta muss man allerdings viel mehr erwarten. Sie sollte in der Lage sein, die netzrelevanten Themen in einen Kontext zu den Rechten in der realen Welt zu stellen. Sie müsste für jeden Leser deutlich machen können, dass es keinen Unterschied zwischen der gesellschaftlichen Partizipation am Wahlkampfstand einer Partei und der Kommentierung des Parteiprogramms im SPD-Blog gibt.
In der aktuellen Version ist die D64-Charta ein hervorragendes Beispiel wie eine Netz-Charta nicht sein sollte. Vielleicht ist sie ja wenigstens für diesen Zweck gut.
Danke für die Zusammenfassung (flattr?). Ich hatte gestern und heute mehrfach versucht das Elaborat zu lesen bin aber jeweils über der Tastatur eingeschlafen.
Was mir an der Zusammenfassung höchstens noch fehlen würde ist OpenData. Das erwähnen sie auch unter Datenschutz obwohl es nach meiner Meinung unter Öffentlichkeit oder Partizipation gehört.
Herrausstechend unter dem ganzen Gezülze fand ich jedoch die Frage nach den öffentlichen Räumen. Das ist ein Punkt, der bei Dir unter Netzneutralität abgehandelt wird bei D64 jedoch ein stärkeres Gewicht hat.
marco.m.
5 Apr 12 at 1:25 pm
Wegen Anonymität im Netz, lies mal Datenschutz, Punkt H: “Die Möglichkeit, das Netz unter Pseudonym zu nutzen, muss
erhalten bleiben und für Diensteanbieter weiterhin verpflichtend sein (vgl. Telemediengesetz
§13(6)).” – stärker kann man diesen Punkt kaum formulieren. Insbs. im Zusammenspiel mit der Forderung auf europaweite Gültigkeit für alle hier operierenden Unternehmen (Punkt B) wie in der aktuellen EU-Datenschutz-Verordnung geplant, wäre das die gesetztliche Grundlage für eine Änderung der Namensregelungen wie insbs. Google und Facebook sie derzeit praktizieren.
Ach, und wo spricht die Charta sich eigentlich nochmal genau für Quickfreeze aus?
Stephan Noller
5 Apr 12 at 1:32 pm
@Stephan Noller: Hatte mich auch gewundert, dass Qrios dem D64 da Blindheit unterstellt. Allerdings wird die Forderung durch den einleitenden Satz relativiert. Wie soll den Schutz vor Mobbing und Beleidigungen gewährleistet wenn letztlich nicht doch eine Zuordnung möglich ist? Insofern stimme ich zu, dass ihr das Thema zu niedrig hängt.
@qrios: Finde auch, dass das Thema öffentliche Räume sehr relevant ist und sie damit einen wichtigen Ansatz haben, der im öffentlichen Diskurs oft zu Unrecht unberücksichtigt bleibt.
N.N.
5 Apr 12 at 1:46 pm
@Stephan Noller: Dem Absatz bzgl. Anonymität habe ich eine Korrektur hinzugefügt.
Die “Speicherung und Auswertung gespeicherter Daten” entspricht in der Praxis einem Quick-Freeze. Denn nach deutschem Datenschutzrecht müssen ja alle nicht rechnungsrelevanten personenbezogenen (oder personenbeziehbare) Daten gelöscht werden. Wenn nun per Gerichtsbeschluss (wie hab ich mir das eigentlich vorzustellen? Gericht ohne Vertretung des Beschuldigten?) bestimmt wird, dass die Kommunikationsdaten ab nun erfasst werden sollen, wird ja nur die Löschung ausgesetzt.
qrios
5 Apr 12 at 2:12 pm
boah, wie mich dieses unkonstruktive genöhle der blogger, twitterer und newsgroupies immer ankotzt. kaum wagt sich mal jemand raus, hauen alle immer nur drauf. macht doch endlich mal was eigenes! und lasst die die was können ihr zeug machen.
Jan-Peter P.
5 Apr 12 at 2:19 pm
Prinzipiell finde ich die Ausarbeitung einer “Netz-Charta” eine ausgezeichnete Idee. Allerdings sollten das nicht nur die SPD-nahen Netzbürger machen sondern nach Möglichkeit eine Gruppe aus vielen Vertretern verschiedener (möglichst politikferner) Vereinigungen und Personen. Deine Kritik an der d64-Charta zeigt ja schon den unauflösbaren Widerspruch der sich aus den Tätigkeiten etlicher Mitglieder von d64 (siehe http://wirres.net/article/articleview/6047/1/6/ ) und der Verbundlung mit der SPD ergibt. Insbesondere der schwammige Part bezüglich “durchschnittlich” informiertem Nutzer und den Mutmaßungen über deren Interesse dürfte einem inneren Konflikt entspringen.
@d64: Plant ihr nach der internen Diskussion auch externe Partner zur Diskussion einzuladen?
anon
5 Apr 12 at 3:14 pm
Diese Charta dürfte ja der ultimative Rohrkrpierer sein. Selten hab ich so wenig Echo auf so ein Dokument gesehen. Da gibt es ja quasi niemanden ausserhalb von dem Verein, der sich damit irgendwie auseinandersetzt. Ich fürchte qrios hat trotz seiner Kritik denen noch einen guten Dienst erwiesen (so SEO-technisch).
PiratLB
10 Apr 12 at 4:56 pm
[...] wären wir genau wieder bei dem mutmaßlichen Interesse eines durchschnittlich informierten Nutzers, den der D64 in seiner Charta aus dem Hut zaubert. Was meinen die alle? Den [...]
Firefox, der Mielke unter den Browsern: Ich liebe Euch doch alle! at qrios
1 Jun 12 at 11:10 pm